Erinnerung ist selten geradlinig. Sie besteht aus Brüchen, Widersprüchen und oft schmerzhaften Erkenntnissen. Genau diesem Geflecht ist Ursula Vaupel in ihrem Buch „Auch ich war ein Hitlermädchen“ nachgegangen. Das Werk stand jetzt im Zentrum einer eindrucksvollen Lesung für die Zehntklässlerinnen und Zehntklässler der Anne-Frank-Schule in Eschwege. Die inzwischen verstorbene Autorin Ursula Vaupel schildert darin ihre Jugend im Nationalsozialismus: als Mädchen fasziniert und vereinnahmt von der Propaganda, zugleich aber als körperlich Beeinträchtigte selbst von der Ideologie ausgegrenzt und diskriminiert. Diese Erfahrung führte sie nach dem Krieg zu einem beharrlichen Engagement für Menschenwürde.

Gestaltet wurde die Veranstaltung von Milena Vaupel-Kentner, Tochter von Ursula Vaupel, und Thekla Rotermund-Capar, der ehemaligen Gleichstellungsbeauftragten des Werra-Meißner-Kreises. Milena Vaupel-Kentner berichtete eindringlich von der Jugend ihrer Mutter, von der Verlockung der Propaganda und dem Zwiespalt zwischen Mitläufertum und Ausgrenzung. Thekla Rotermund-Capar las dazu ausgewählte Passagen aus dem Buch und ließ so die Stimme der Verstorbenen selbst hörbar werden.

Das Buch nimmt seinen Ausgang bei dem Stolperstein vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie Vaupel in Wiesbaden, in dem auch der jüdische Junge Paul Kester lebte. Er wurde 1939 mit einem Kindertransport nach Schweden gerettet. Heute, im Alter von 99 Jahren, sandte er den Jugendlichen der AFS eine Videobotschaft, in der er eindringlich appellierte: „Setzt euch für Frieden, Demokratie und die Würde des Menschen ein.“

Schon als junge Frau wandte sich Ursula Vaupel in der jungen Bundesrepublik den Opfern von Unrecht zu. Viele Jahre lebte und wirkte sie in Eschwege und setzte sich hier nicht nur für Menschenrechte, sondern auch für die Aufarbeitung der Geschichte vor Ort ein. Besonders engagierte sie sich für die Erinnerung an die Opfer der sogenannten „Hexenprozesse“: 1657 waren in Eschwege eine Mutter und ihre Tochter als vermeintliche „Hexen“ verurteilt, gefoltert und auf dem Scheiterhaufen hingerichtet worden. Auf Ursula Vaupels Initiative geht das Mahnmal auf dem Schulberg zurück, das bis heute an diese Opfer erinnert.

Die Veranstaltung an der Anne-Frank-Schule machte deutlich, dass Erinnerung nicht in Archiven und Geschichtsbüchern erstarren darf. Sie zeigte, wie sich aus Irrtum und Verblendung Einsicht und Verantwortung entwickeln können – und stellte die Frage, welche Haltung junge Menschen für eine starke Demokratie heute brauchen.

Zum Abschluss dankte Schulleiterin Anna Reimann den beiden Referentinnen für die eindrucksvolle Begegnung und hob zugleich das Engagement der Deutschlehrerinnen Katharina Theophel und Verena Diegel-Müller hervor, die die Lesung an die Schule geholt und mit Umsicht organisiert hatten.